Wem, liebe Leser, erschienen die vergangenen sechs Monate nicht wie eine Aneinanderreihung von Nachrufen? Schmidt, Genscher, Westerwelle wurden in den politischen Himmel abberufen, vor wenigen Tagen Muhammad Ali, “the Greatest” und gestern Viktor Kortschnoj, “der Schreckliche”. Mir mag es nicht zustehen, Ali den Boxer und Kortschnoj den Großmeister auf eine wie auch immer geartete gemeinsame Stufe zu stellen, aber zumindest eine persönliche Würdigung möchte ich dem Schachgenius noch gerne auf seinen letzten Weg geben.
Meine ersten Berührungspunkte mit dem königlichen Spiel verbinden sich eng mit Kortschnojs Namen. Weltmeisterschaft 1978 in Baguio (Philippinen) gegen Anatoli Karpov auf sechs Gewinnpartien über mehrere Monate, Kortschnojs Aufholjagd von 2:5 auf 5:5 war der Tagesschau sogar einen zweiminütigen Filmbericht wert, trotzdem blieb ihm der Titel nach der Niederlage in der 32. Partie versagt. Weltmeisterschaft 1981 in Meran, diesmal eine klare Niederlage gegen Karpov, nachdem er zuvor im Kandidatenfinale den deutschen Protagonisten Dr. Robert Hübner besiegt hatte. Da diese beiden WM-Kämpfe nicht nur durch die Auseinandersetzungen am Schachbrett sondern auch im politischen Umfeld geprägt waren, begann ich mich intensiver mit dem Turnierschach zu beschäftigen.
25 Jahre später hatte sich in der Schachwelt vieles verändert. Statt Hängepartien und Eröffnungskarteikarten gab es Fritz und Chessbase, die Anzahl internationaler Titelträger hatte sich gefühlt verzehnfacht. Aber der unverwüstliche Viktor Kortschnoj, zwar nie Weltmeister aber immer Weltspitze, war immer noch aktiv und hatte seine Teilnahme am Open Ciutat de Banyoles zugesagt. Mit von der Partie waren auch Michael Schwerteck (“mattovsky”) und meine Wenigkeit, nachzulesen in der ersten Ausgabe der Hohentübinger Schachblätter . Nach vier Runden hatte ich zwei Siege und zwei Unentschieden auf dem Konto, in Runde 5 wurde ich hochgelost und durfte an Tisch 4 im “Carré”, also dem für normale Zuschauer und Spieler abgesperrten Bereich der Spitzenbretter antreten. Dass ich gegen den starken IM Joan Fluvia Poyatos mit meinem “Franzosen” kein Land sah, war eher zweitrangig, denn viel interessanter war die Partie am Nebentisch, bei der eben Meister Kortschnoj eine aus meiner Sicht beeindruckende Verteidigungsleistung ablieferte. Kortschnoj konnte wie kaum ein anderer Spieler Materialvorteil in passiven Stellungen “abklammern”, so hatten auch Angriffsspieler wie Ex-Weltmeister Michail Tal eine verheerende Bilanz gegen ihn. In der erwähnten Partie fertigt der 75-jährige Veteran den etwa halb so alten russischen IM jedenfalls überzeugend ab.
Fomichenko, Eduard (2385) – Kortschnoj, Viktor (2600), Open Banyoles (5), 20.08.2006
1.d4 d5 2.Sf3 e6 3.c4 dxc4 4.e3 Sf6 5.Lxc4 c5 6.0–0 Sc6 7.Sc3 a6 8.De2 cxd4 9.Td1 Sa5
Kortschnojs Eigenbau (mag er auf dem Foto noch darüber unschlüssig gewesen sein?) – anstatt die Hauptvariante mit 9… Le7 und theoretisch bekannter Isolani-Stellung zu forcieren, wirft er lieber seinen Gegner früh aus der Theorie – übrigens die einzige Partie in der Megadatenbank mit dieser Stellung!
10.Sxd4 Sxc4
11.Sc6 Dc7 12.Td8+ Dxd8 13.Sxd8 Sb6
Für die geopferte Dame hat Schwarz aktuell nur Turm und Läufer, dem weißen Springer auf d8 ist aber der Rückzug verwehrt. Weiß entscheidet sich zunächst richtig für die schnelle Entwicklung statt für den Springer noch einen Bauern mitzunehmen.
14.e4 Kxd8 15.Le3 Sbd7 16.e5 Sg8 17.Td1 Se7 18.Se4 Sc6
Rechnerisch ist Schwarz mit Turm plus zwei Figuren gegen die Dame natürlich im Vorteil, aber wie soll er seine beengte Stellung befreien ohne dabei den Aktionsradius der weißen Dame entscheidend zu vergrößern? Zunächst ist der wichtige Bauer e5 angegriffen und es wäre wirklich interessant gewesen, wie Kortschnoj nach dem natürlichen Deckungszug 19.f4 seine Stellung verstärkt hätte. Houdini sieht jedenfalls Weiß leicht im Vorteil, allerdings sind die “Blechdosen” in derartigen Stellungen weit weniger verlässlich als bei taktischen Varianten. Die Partiefortsetzung erscheint zwar poinitiert, wird aber vom Altmeister konsequent widerlegt.
19.Lb6+ Ke8 20.Lc7 Sdxe5 21.f4 Sd7 22.f5 Sf6 23.Sg5 h6
Da nun Springeropfer weder auf e6 noch auf f7 fruchten, gesteht der traurige Rückzug nach h3 eigentlich schon das Scheitern des weißen Angriffs ein. Kortschnoj zeigt nun einen klaren Plan zur Verwertung seines Materialvorteils, der zwar noch über 60 Züge dauert, mir aber trotzdem noch sehenswert erscheint.
24.Sh3 Le7 25.Sf4 exf5 26.Ld6 Le6 27.Sxe6 fxe6 28.Dxe6 Td8 29.Te1 Td7 30.Lxe7 Txe7 31.Dc8+ Sd8 32.Txe7+ Kxe7 33.Dxf5 Se6
Ich unterstelle Kortschnoj, dass er sich spätestens hier seines Sieges sicher war. Weiß hat zwar beide Bauern zurück gewonnen, Schwarz konnte sich aber befreien und wird seine drei Figuren mit Unterstützung des Königs weiter zentralisieren.
34.Df3 Tb8 35.h3 Se8 36.De4 Sd6 37.Dh4+ Kf7 38.Dh5+ Kf8 39.Dg4 Te8 40.Db4 Ke7 41.Dh4+ Kd7 42.Da4+ Sb5 43.De4 Kc8 44.a4 Sbc7 45.b4 Td8 46.De3 Td4 47.Dc3 Kd7 48.Db3 Kd6 49.Kh2 Kd7 50.Kg1 b5 51.axb5 axb5 52.Da3 h5 53.g3 g5 54.Df3 h4 55.gxh4 Txh4 56.Dc3 Kc8 57.Kf2 Tc4 58.Da3 Sd4 59.De3 Tc2+ 60.Kf1 Sce6 61.De4 Tc3 62.h4 Tf3+ 63.Kg1 g4 64.h5 Th3 65.Dg6 g3 66.Dg8+ Kd7 67.Df7+ Kd6 68.Kg2 Txh5 69.Kxg3 Tg5+ 70.Kh3 Kd5 71.Df1
Unermüdlich ist die weiße Dame über das Brett gehetzt um die schwarze Mannschaft zu beschäftigen, nun entscheidet aber ausgerechnet der schwarze König die Partie, indem er durch ein schönes Zugzwangmotiv den letzten weißen Bauern kassiert.
71.. Ke4 72.De1+ Kd3 73.Df1+ Kc3 74.De1+ Kc4 75.Dd2 Tg7
Zugzwang!
76.De3 Kxb4 77.Kh2 Kc4 78.Kh1 b4 79.Dc1+ Kd5 80.Da1 Tb7 81.Da8 Sc5 82.Dg8+ Sde6 83.Dg2+ Se4 84.Db2 b3 85.Kg2 Sd4 86.Kf1 Tf7+ 87.Ke1 Tf2 0–1