Können schlechte Züge gut sein?

Normalerweise bemühe ich mich, die besten Züge zu finden. Es gelingt mir selten, aber ich versuche es wenigstens. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Manche Spieler sind viel pragmatischer und interessieren sich wenig für die objektiv besten Möglichkeiten. Sie wollen einfach nur Züge finden, die voraussichtlich gut genug sind. Einer dieser “Pragmatiker” hat gerade seinen Weltmeistertitel verteidigt, und zwar gegen einen der “Perfektionisten”. Es war allerdings eine ganz enge Sache und hätte auch leicht andersherum ausgehen können. Dies zeigt, dass man grundsätzlich mit beiden Herangehensweisen erfolgreich sein kann – wenn man sie beherrscht.

Zugegeben, Anand ist vielleicht nicht der allertypischste Vertreter des Pragmatismus, aber so, wie er den Wettkampf letztlich gewann, war es doch ziemlich bezeichnend. Mit Schwarz versuchte er gar nicht erst, aktives Spiel zu bekommen, sondern strebte passive, leicht schlechtere Stellungen an, darauf vertrauend, diese halten zu können. Als Weißer zeigte er sich auch nicht sehr ehrgeizig, sondern gab einige Partien ohne großen Kampf remis, offenbar seine Kräfte bereits für den Tiebreak schonend. Dort wiederum sah seine Taktik im Wesentlichen so aus, möglichst schnell zu spielen, um Gelfand zeitlich unter Druck zu setzen. Dabei nahm er in Kauf, oberflächliche bis schlechte Züge zu produzieren. Am Ende hat es gereicht, was soll man ihm also vorwerfen?

Begeistern kann ich mich für solches Schach allerdings überhaupt nicht. Ich mag kraftvolles, logisches Spiel, das nach dem Maximum bestrebt ist, ich bin beeindruckt von tief durchdachten Ideen, die nicht jeder findet. So etwas war im Spiel des Weltmeisters  in letzter Zeit überhaupt nicht zu sehen. Im Grunde hat er bei der ganzen WM keinen einzigen tollen Zug gefunden, auch sein einziger Sieg war ein Geschenk des Himmels. Menschenskind, waren das noch Zeiten, als Kasparow die Jungs reihenweise weggeputzt hat, mit beiden Farben auf Gewinn spielend. Oder vor ihm Bobby Fischer, der Vater aller Maximalisten.

Die spannende Frage ist allerdings, ob es nicht manchmal klüger ist, pragmatisch zu sein. Der schottische GM Jonathan Rowson hat ein Buch über die “sieben Todsünden im Schach” geschrieben, eine davon ist der Perfektionismus. Ein interessanter Gedanke, den man aber nicht falsch verstehen sollte. Ein Schuss Perfektionismus schadet nicht, aber es kommt wohl wie üblich auf die richtige Mischung an. Peter Leko, ein Perfektionist vor dem Herrn, sagte neulich etwas, worin ich mich gut wiederfinde: Er sei manchmal so vertieft in die Stellung, dass er z.B. 20 Minuten über kleine Feinheiten nachdenke, die gar nicht so relevant seien. Am Ende stelle er fest, dass er die Fragen sowieso nicht beantworten könne, und mache einfach nach Gefühl irgendeinen Zug, den er ebenso gut nach einer Minute hätte ausführen können. Und am Ende vergebe er dann genau wegen dieser verlorenen Zeit seinen Vorteil. Diese Art von Perfektionismus ist sicherlich schädlich. Die Kunst besteht darin zu fühlen, wann sich die zu investierende Zeit wirklich lohnt und wann man einfach seinen Instinkten folgen sollte, dabei in Kauf nehmend, dass man vielleicht nicht das Allerbeste trifft.

Man kann auch noch weiter gehen und fragen, ob es sinnvoll sein kann, ganz bewusst zweitklassige Züge zu wählen, etwa aus psychologischen Gründen. Von Emanuel Lasker wird oft behauptet, er habe genau dieses getan. Bei den aktuellen Spielern bin ich mir z.B. bei Hikaru Nakamura ziemlich sicher, dass er v.a. gegen Schwächere zum Teil absichtlich schlecht spielt, um die Gegner zu provozieren. Diese sollen aus der Reserve gelockt und letzten Endes ausgekontert werden, was auch oft genug funktioniert.

Auch das Reutlinger Open gab mir Anlass, über diese Fragen zu sinnieren. Nehmen wir z.B. meine Partie gegen den Bebenhäuser Jugendspieler Alexander Alber. Gegen ihn spielte ich zunächst eine gute, saubere Partie, häufte positionelle Vorteile an und stand schließlich klar besser. Die genauen Züge hatten allerdings auch Zeit gekostet, so dass ich in der kritischen Phase (etwa ab dem 30. Zug) etwas knapp dran war (nach meiner Erinnerung etwa eine Minute pro Zug).

Ich (mit Schwarz) hatte das Gefühl, sehr gut stehen. 31…Td1 sah verlockend aus, aber konnte man den Bb7 so einfach hergeben? Tja, keine Zeit zum Rechnen, also spielen wir 31…b6?, die “saubere Lösung”. Damit sichere ich meine Stellung und behalte meine positionellen Vorteile, dachte ich mir. Allerdings war damit auch der Schwung weg und Weiß hätte sich mit 32.Th1 verteidigen können (stattdessen geschah 32.g4?, was auch nicht gut war, aber nach einigen weiteren Abenteuern endete die Partie remis). Mit genügend Zeit hätte ich ausrechnen können, dass 31…Td1! in der Tat sehr stark war, denn nach 32.Txb7 T8d2 kann Weiß mit seinen versprengten Figuren keine Verteidigung organisieren. Eine plausible Variante lautet 33.Tb3 Tf1+ 34.Kg3 Te1 35.Kf3 e5 36.Sd5+ Kg5 37.Th3 e4+ 38.Kg3 Ld6+ 39.Sf4 Txe3+! 40.Txe3 Lxf4#

Hätte ich irgendwo zu einem früheren Zeitpunkt etwas weniger genau, dafür aber schneller gespielt, wäre das Ergebnis höchstwahrscheinlich nicht schlechter, sondern eher besser gewesen.

Nehmen wir zum Vergleich meine Partie aus der anschließenden Runde: Da behandelte ich die Eröffnung mit Weiß recht bescheiden und gab meinem Gegner eine Reihe von Möglichkeiten. Ergebnis: 1-0 nach 20 Zügen. Mit korrektem Spiel wäre mir dies niemals gelungen.

3 Kommentare

  1. In der Tat ist die Frage, wie weit der Perfektionismus in der Turnierpartie gehen kann, von Bedeutung. Übertrieben hat es z.B. – nicht nur einmal – Friedrich Sämisch, der nach 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 für eine Stunde abtauchte, um nach der Partie zu sagen: “Ich musste mich doch zwischen 3…a6 und 3…Sf6 entscheiden!”

    Einen der berümtesten und “besten” schlechten Züge der Schachgeschichte gibt es hier:

    http://sjakkfantomet.blogg.no/1187312801_trollmannen_fra_riga.html

    Da hätten sich heutzutage die Schachanfänger nach einem Mausklick gefragt, was dieser Zug soll…

  2. Martin Schmidt

    Nun, wir beide hatten diese Diskussion ja durchaus einmal. Allerdings möchte ich hier den Pragmatismus ein wenig verteidigen – denn es gibt durchaus einen Unterschied zwischen Pragmatismus im Spiel und im Wettkampf. Anand schien mir vor allem keinen Kampfgeist zu besitzen – natürlich ist es dann auch schwierig, sich wirklich reinzuknien und die wirklich besten Züge zu finden. Aber auch wenn man nicht nach den besten Zügen strebt, kann man versuchen, mit beiden Farben auf Gewinn zu spielen.
    Von mir wird übrigens auch wieder etwas kommen – derzeit sitze ich an einem Seminar, das ich ein wenig vor mir hergeschleppt habe und jetzt fertig machen muss.

  3. Turgon, danke für den Link, der mir erlaubt hat, meine (bescheidenen) Norwegisch-Kenntnisse aufzufrischen. Was für Quellen Du immer wieder ausgräbst…

    Ich bewundere übrigens durchaus diejenigen, die den Pragmatismus auf höchster Stufe betreiben, z.B. so, wie es Magnus Carlsen macht. Dem ist die schachliche Wahrheit nach eigener Aussage auch herzlich egal, ihn interessiert nur, wie er dem Gegner praktische Probleme stellen kann. Das bedeutet nicht, dass er nicht auf Gewinn spielt oder keine Risiken eingehen will, im Gegenteil. Viele seiner Partien laufen ungefähr so: Theorieduelle werden vermieden, auch wenn es jede Aussicht auf Eröffnungsvorteil kostet. Es wird eine undurchsichtige Lage herbeigeführt, in der Carlsen keineswegs besonders toll zu stehen scheint. Aber auf einmal fängt der Gegner an zu patzen, spielt scheinbar unter seinem gewohnten Niveau, verdirbt die Partie. “Carlsen hat wieder Glück gehabt” sagen hinterher die Leute, aber das stimmt so nicht. Vielleicht muss man gerade im Computerzeitalter, wo alles sehr tief ausanalysiert ist, so spielen? Weg von den gewohnten Stellungsbildern, notfalls auch mit zweifelhaften Zügen? Eine interessante Frage. Meine These zum WM-Kampf ist folgende: Hätte Anand mehr Selbstvertrauen gehabt und (wenigstens mit Weiß) einfach nur Gelfands unglaublich tiefe Vorbereitung umschifft (notfalls mit 1.g3 und Konsorten), hätte er das Match auch ohne Tiebreak gewonnen.

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