Aus dem Aufstiegskrimi: Ungewöhnliches Qualle-Opfer

Hallo allerseits, nach der Einführung durch Martin unternehme ich (Michael) nun ebenfalls erste Gehversuche im neuen Blog. Die Themenauswahl fällt leicht: Gerade haben wir in einem nervenaufreibenden Match die Landesliga-Meisterschaft geholt und meine Partie aus diesem Kampf war nicht gerade langweilig. Die Stellungsbilder waren zum Teil ziemlich ungewöhnlich und selbst die Maschine konnte im ersten Waschgang nicht immer Klarheit verschaffen, was denn eigentlich los war. Die Leser sind daher eingeladen, sich an den kritischen Stellen ihre eigenen Gedanken zu machen.

Michael Schwerteck (2010) – Frank Häußler (1951)

Landesliga Neckartenzlingen – HT, Brett 5, 29.04.2012

1.Sf3 Manchmal ist es praktisch, in der Eröffnung flexibel zu sein. Frank
hatte nur mit 1.d4 gerechnet. c5 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.g3 f5!? Kreativ,
aber auch leicht antipositionell. Die Cracks spielen so nicht. 5.Lg2 Sc6 6.O-O Sf6 7.d4 Se4!? Ich hatte fest mit 7… cxd4 gerechnet, wie auch in sämtlichen Vorgängerpartien geschehen.

8.d5!? Die aggressivste Vorgehensweise. Es gab auch diverse Alternativen wie 8.Dd3,
8.Dc2 oder 8.Le3. Sxc3 9.bxc3 Sa5!? Auch eine schwierige Entscheidung. Der
Randspringer drückt gegen c4, allerdings wird seine Existenz wohl für längere
Zeit hierauf beschränkt bleiben.

Nach 9…Se5 ist 10.d6!? die kreativste Fortsetzung, mit sehr interessantem Spiel.

Niedlich ist die Variante 9…Lxc3? 10.dxc6 Lxa1 11.Lf4+- Lg7?

Analysediagramm

12.c7 mit “Damenmatt”.

10.Dd3 10.d6!? war auch hier eine Option. Ich habe es mir überlegt, fand es aber doch einen Tick zu wild. Dem Computer gefällt’s! 10…d6 11.h4!? Ehrlich gesagt konnte ich die schwarze Stellung überhaupt nicht ernst nehmen und hielt eine “Ganzkörpermassage” für angebracht. Allerdings habe ich einige Zeit geschwankt. Kann sein, dass das etwas schwungvollere 11.Sg5 doch besser war. Der Partiezug ist ein bisschen langsam. 11…Db6 Er geht auf den Bauern c4 los, aber vielleicht ist das seinerseits wieder zu
langsam. Es gab auch die Möglichkeit, sich mit 11…e5 12.dxe6 Lxe6 zu befreien. Mit 11.Sg5 wäre das verhindert gewesen.

12.Tb1!? Mit der Idee, die Qualität zu opfern! Wirklich notwendig war das natürlich nicht, aber bei diesem gähnenden Loch auf e6 hatte ich einfach keine Lust, meinen Springer auf d2 zu parken. 12.Lf4 Da6 13.Sd2 Ld7 14.Tfe1 O-O-O 15.e4 +/=

12…Da6 13.Tb5 Ld7 Obacht, es droht 14…Sxc4! 14.a4

Eine ulkige Verwendungsart für den Turm. So etwas habe ich noch nie gesehen!

14…Lxb5 An seiner Stelle hätte ich eher 14… h6 gezogen, um den weißen Springer nicht nach g5 zu lassen. Auch wenn dies natürlich den Bg6 schwächt und mehr oder weniger impliziert, dass man auf den Qualitätsgewinn verzichtet. 15.cxb5 c4?! Dieser Zwischenzug ist zwar verständlich (er will seinen Problemspringer über b3 und c5 reaktivieren), gibt mir aber ein wichtiges Tempo. 15…Db6 16. c4 O-O-O dürfte die kritische Fortsetzung sein. Weiß hat sicher fette Kompensation, aber es ist schwer, einen handfesten Vorteil nachzuweisen. 16.De3 Db6 17.De6

Das ist nun schon ziemlich ungemütlich für Schwarz.
Dementsprechend versank mein Gegner in längeres Brüten, wonach er nur noch 20
Minuten bis zur Zeitkontrolle hatte (ich hatte gut 40 Minuten). 17…Td8? So
lassen sich die Probleme nicht lösen. Der Comp gibt als kleinstes Übel
folgende Variante an: 17…Dd8 18.Sg5 Lf6 19.Df7+ Kd7 20.Sxh7 Txh7 21.Dxh7 Dg8 mit gewissen Chancen wegen des schwachen Bc3.

Schlecht ist hingegen 17…Tf8? 18.Sg5 Tf6?! 19.Dg8+ Lf8 20.Sxh7+-.

17…Lf6 18.Lg5! Tf8 19.Lxf6 Txf6 20.Dg8+ Tf8 21.Dxh7 ist auch ganz gut für Weiß.

18.Sg5?! Das gewinnt zwar auch, ist aber doch eine Ungenauigkeit, wie ich
sogleich bemerkte. Schlauer wäre es gewesen, zuerst den Zwischenzug 18.Le3
einzuschalten. Nach 18…Dc7 19. Sg5 Lxc3 20.h5! hängt Schwarz komplett in
den Seilen; wichtig ist im Vergleich zur Partie, dass die Dc7 ein wichtiges
Fluchtfeld blockiert. Es könnte folgen: 20…Dc8 (20…Sb3 21.hxg6 hxg6 22. Dxg6+
Kd7 23.Dxf5+ Ke8 24.Df7+ Kd7 25.De6+ Ke8 26.Le4+-) 21.Df7+ Kd7 22.Lxa7
(gewinnt die Kontrolle über die schwarzen Felder) Thf8 23.Dxh7 Tf6

Analysediagramm

24.Se4!+-

18…Lxc3

19.h5? Verlockend, gibt Schwarz aber eine Verteidigungschance. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich 19.Sxh7! verworfen habe. Wahrscheinlich habe ich nach Txh7 statt dem Schach auf g8 nur das auf g6 gesehen, aber das ist sogar eher noch stärker: 20.Dxg6+ Tf7 21.Le3! Ld4 22.Lh6!+- und der Tf7 geht verloren. 19. Le3 käme
hingegen zu spät wegen 19…Ld4. 19…Sb3? Von beiden Spielern übersehen
wurde das Manöver 19…Dd4! 20.hxg6 Df6 mit Verteidigungschancen. 20.hxg6?! (20.Sxh7!) 20…hxg6 21.Dxg6+ Kd7 22.Dxf5+ Kc7 23.Se6+ Kb8 24.Sxd8 Dxd8 25.De4

Die Lage ist etwas übersichtlicher geworden. Weiß hat inzwischen einen Bauern mehr, muss aber noch ein bisschen auf den schwarzen c-Bauern aufpassen. 25…Dc8!? Opfert noch einen Bauern. 25…Dc7 war auch legal. 26.Dxe7 Le5 27.La3!? Ein bisschen leichtsinnig. (27.De6+/=)
27…Dd8? Damentausch ist sicher nicht der richtige Weg. 27…c3! hätte noch ganz gute Gegenchancen ergeben. Der Computer spuckt folgende (natürlich ganz logische und naheliegende) Zugfolge aus: 28.Lxd6+ Lxd6 29.Dxd6+ Ka8 30.Df6! c2 31.d6! c1D 32.d7!

Analysediagramm

32…Dd8 (abgefahren ist auch 32…Dxf1+ 33.Lxf1 Dd8 34.Dc3 Sa5 35.Lh3!? und Weiß steht womöglich gar auf Gewinn) 33.Txc1! Sxc1 34.Db2! Sxe2+! 35.Dxe2 Dxd7 36. a5+/=  28.Dxd8+ Txd8 29.Tb1!

Jetzt ist klar, dass Weiß gewinnen sollte. Der weitere Verlauf war von Zeitnot geprägt, aber es passierte nichts Umwälzendes mehr. 29…Tc8 30.Lh3 Th8 31.Kg2 Sd2 32.Td1 c3 33.Lf5 Sc4 34.Lb4 Tf8 35.Lc2 Sb2 36.Tc1 Tc8?! 37.Lb3?! (37. f4) 37… a5?! 38.bxa6 bxa6 39.f4 Ld4 40.Lxd6+ Ka7 41.Le5 1-0

4 Kommentare

  1. > Eine ulkige Verwendungsart für den Turm. So etwas habe ich noch nie gesehen!

    Mir ist auch hier gleich eine Analogie eingefallen, vgl. 20…Tb4! in Selezniev – Alekhine, Triberg 1921. Ok, die Motive sind anders: Aljechin ging es darum, den drohenden Generalabtausch der Türme auf der b-Linie zu verhindern, Du wolltest den schwachen Bc4 “decken”.

    Die klassische Zählweise des Wertes der Figuren (B=1, L,S=3, T=5, D=9) spiegelt u.a. den Unterschied zwischen Turm und Leichtfigur nicht richtig wider. Typischer Anfängerfehler: 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.d3 Sf6 5.Sg5 0-0 6.Sxf7? Txf7 7.Lxf7+ Kxf7. “Wieso?”, sagt der mit Weiß spielende Anfänger, “6 Punkte gegen 6 Punkte.” Die Zählweise B=1, L,S=3, T=4.5, D=8 ist vielleicht etwas genauer.

    Qualitätsopfer wie das obige sind in den letzten Jahren besonders durch Topalov in Mode gekommen, die Zeitschrift “Schach” sah dies als “verfeinerte Wahrnehmung des Kräfteverhältnisses zwischen Turm und Leichtfigur”.

    Ich finde das Qualitätsopfer in der obigen Partie naheliegend, Topalov hätte möglicherweise genauso gespielt. Vor allem die Schwäche auf e6 gibt Schwarz zu denken.

  2. Nachtrag:
    > er will seinen Problemspringer über b3 und c5 reaktivieren

    Ich wusste ja, dass es Problembären gibt,
    http://www.youtube.com/watch?v=tmJb3qMyMu8
    aber Problempferde?

  3. Turgon, kennst Du eigentlich Larry Kaufmans Forschungen zum Thema Materialwerte? Er sieht nämlich genau dieselben Probleme mit der klassischen Zählweise und verwendet u.a. auch dieses Partiebeispiel mit dem frühen Tausch von L+S gegen T+B. Seine Schlussfolgerungen sind ganz interessant. Sie scheinen sich auch zu bewähren, denn die von Kaufman programmierte Engine Komodo basiert auf diesen Erkenntnissen und ist gerade drauf und dran, Houdini einzuholen.
    Details kann man hier nachlesen:
    http://home.comcast.net/~danheisman/Articles/evaluation_of_material_imbalance.htm

  4. Martin Schmidt

    Na, dann, etwas verspätet: Schöner erster Beitrag, gefällt mir. Auf deine Bewertung deiner Denkweise war ich ohnehin gespannt, das Qualitätsopfer hat mir schon in Neckartenzlingen gefallen.

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